Aufgaben der Generalprokuratur
I. Beteiligung am Nichtigkeitsverfahren
In den Geschäftskreis der Generalprokuratur gehören zunächst die Erstattung von Stellungnahmen zu Nichtigkeitsbeschwerden gegen schöffen- und geschworenengerichtliche Urteile sowie die Teilnahme an den Verhandlungen vor dem Obersten Gerichtshof.
Gelangt die Generalprokuratur zur Einschätzung, dass über eine Nichtigkeitsbeschwerde in einem Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung vor dem Obersten Gerichtshof zu entscheiden wäre, so erstattet sie eine schriftliche Stellungnahme („Croquis“), in welcher sie ausführlich zu den in der Beschwerde aufgeworfenen Fragen Position bezieht und durch ihre Empfehlung zur Rechtsfindung beiträgt.
Ihrer Funktion als Rechtswahrerin entsprechend erstattet die Generalprokuratur diese Stellungnahmen objektiv und unabhängig davon, ob die zu behandelnden Rechtsmittel von einem Angeklagten, einem Privatbeteiligten oder der Staatsanwaltschaft erstattet werden.
Da der Generalprokuratur keine Anklägerfunktion zukommt und sie solcherart auch nicht über die Anklage disponieren kann, bewirken von ihr geäußerte Bedenken gegen den Standpunkt der Staatsanwaltschaft auch nicht, dass deren Rechtsmittel als zurückgezogen gilt.
In jenen Fällen, in welchen die Generalprokuratur eine Nichtigkeitsbeschwerde als für eine Erledigung in nichtöffentlicher Sitzung durch den Obersten Gerichtshof geeignet ansieht, gibt sie gleichfalls eine entsprechende Stellungnahme ab. Dies kann – je nach Lage des Falles – auch in Form einer kurzen Zusammenfassung geschehen.
II. Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes (Wahrungsbeschwerde)
Die rechtsstaatlich wichtigste Kompetenz der Generalprokuratur ist die allein ihr zustehende Befugnis, gegen Urteile der Strafgerichte, die auf einer Verletzung oder unrichtigen Anwendung des Gesetzes beruhen, sowie gegen jeden gesetzwidrigen Beschluss oder Vorgang eines Strafgerichts, der ihr – auf welche Weise auch immer (zB durch Hinweise von Gerichten, Staatsanwaltschaften oder privater Seite, aber auch auf Grund eigener Wahrnehmung) – zur Kenntnis gelangt, eine Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zu erheben und beim Obersten Gerichtshof auf eine Feststellung der Gesetzeswidrigkeit zu dringen.
Dieser unbefristete und unbeschadet eingetretener Rechtskraft offenstehende Rechtsbehelf sichert – mit dem Ziel, künftige Rechtsverletzungen gleicher Art hintanzuhalten – die Richtigkeit und Einheitlichkeit der Rechtsprechung sowie die Weiterentwicklung des Strafrechts. Die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes dient damit vorrangig den Interessen einer zuverlässig funktionierenden Strafrechtspflege. Sie kommt aber regelmäßig auch zu Unrecht verurteilten Personen, auf andere Art vom Strafgericht gesetzwidrig benachteiligten Beschuldigten oder Verfahrensbeteiligten in vergleichbarer Lage zu Gute, indem auf Initiative der Generalprokuratur eingetretene Nachteile zu Gunsten der betroffenen Personen durch den Obersten Gerichtshof beseitigt werden können.
Der – solcherart auch Individual- und Grundrechtsschutz bietende – Anwendungsbereich der Wahrungsbeschwerde wurde mit 1. Jänner 2011 über Entscheidungen und Vorgänge der Gerichte hinaus auf Maßnahmen der Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft erweitert:
§ 23 Abs 1a StPO sieht die Kompetenz des Rechtschutzbeauftragten vor, wegen gesetzwidriger Durchführung von Zwangsmaßnahmen der Kriminalpolizei oder gesetzwidriger Anordnung von Zwangsmaßnahmen der Staatsanwaltschaft sowie Entscheidungen der Staatsanwaltschaft über die Beendigung des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft bei der Generalprokuratur eine Wahrungsbeschwerde anzuregen, sofern die Berechtigten keinen Rechtsbehelf ergriffen haben oder kein Berechtigter ermittelt werden konnte.
Es bleibt aber darauf hinzuweisen, dass andere Vorgänge der Staatsanwaltschaften sowie Vorgänge der Zivilgerichtsbarkeit und der Verwaltung nicht im Wege der Nichtigkeitsbeschwerde zu Wahrung des Gesetzes überprüft werden können.
Überdies lässt die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nur das Aufgreifen von Fehlern rechtlicher Natur, nicht aber die Anfechtung unrichtiger Tatsachenfeststellungen zu.
III. Erneuerung des Strafverfahrens
Wird eine Verletzung eines durch die Europäische Menschenrechtskonvention garantierten Rechts durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dann steht – auch bei einem dem Obersten Gerichtshof insoweit gemachten Vorwurf – dem Generalprokurator (wie auch dem von der festgestellten Verletzung Betroffenen) nach dem mit BGBl 1996/762 neu eingeführten § 363a StPO der Antrag auf Erneuerung des Verfahrens an den Obersten Gerichtshof offen, sofern die Möglichkeit eines für den Betroffenen nachteiligen Einflusses auf den Inhalt der strafgerichtlichen Entscheidung nicht ausgeschlossen ist.
Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshof lässt einen Erneuerungsantrag auch ohne vorherige Anrufung und Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu.
IV. Außerordentliche Wiederaufnahme
Den Gerichten nicht in rechtlicher, sondern in faktischer Hinsicht unterlaufene Fehlbeurteilungen sind zwar einer Anfechtung mit Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes entzogen; gemäß § 362 Abs 1 Z 2 StPO kann der Generalprokurator jedoch einen Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens im außerordentlichen Weg zu Gunsten des Verurteilten wegen aus dem Akt hervorgehender erheblicher Bedenken gegen die Richtigkeit der dem Urteil zu Grunde gelegten Tatsachen stellen.
V. Bestimmung der Zuständigkeit
Die Generalprokuratur entscheidet gemäß § 28 StPO über sprengelübergreifende Zuständigkeitsstreitigkeiten der Staatsanwaltschaften im Ermittlungsverfahren und kann von Amts wegen oder auf Antrag aus wichtigen Gründen ein Verfahren der zuständigen Staatsanwaltschaft abnehmen und einer anderen Staatsanwaltschaft übertragen.
Ergibt sich nach den gesetzlichen Zuständigkeitstatbeständen (§ 25 Abs 1 bis 3 StPO) keine örtliche Zuständigkeit einer Staatsanwaltschaft, so bestimmt ebenfalls die Generalprokuratur, welche Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren zu führen hat (§ 25 Abs 4 StPO).
VI. Disziplinarverfahren
Darüber hinaus wirkt die Generalprokuratur an den Disziplinarverfahren gegen Richter und Staatsanwälte, Notare, Rechtsanwälte, Rechtsanwaltsanwärter und gegen die Mitglieder des Verwaltungsgerichtshofs sowie am Amtsenthebungsverfahren gegen ein Mitglied oder Ersatzmitglied des Verfassungsgerichtshofs mit.
Auch hier erstattet sie (zumeist) umfassende Stellungnahmen zu den in den Rechtsmitteln aufgeworfenen Fragen und trägt durch ihre Empfehlung zur Rechtsfindung bei.